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In unserer Gesellschaft besteht noch immer eine große Unsicherheit, wie viel Wahrheit ein Kind über die tatsächlich stattfindende Familiensituation ertragen kann. Dabei sind Offenheit und Ehrlichkeit für diese Kinder so wichtig. Keiner traut diesen Kindern zu, dass mit ihnen offen über ihre Situation gesprochen wird, doch es wird ihnen täglich zugemutet, Krisen, Psychoterror, Missbrauch und Gewalt zu ertragen.

Es ist leider auch noch immer die Annahme verbreitet, dass Kinder von den Belastungen innerhalb ihrer Familie nichts bemerken würden. Dies ist jedoch ein fataler Irrglaube, denn Kinder bekommen viel mehr mit, als man denkt. Sie haben feinere Antennen als Erwachsene und spüren oft kleinste Veränderungen. Sie unterliegen von klein auf Zwängen und Gesetzen; Angst, Verwirrung und Scham sind ihre ständigen Begleiter.

Laut aktuellen Forschungen geht derzeit nur zirka ein Drittel der Kinder aus alkoholbelasteten Familien relativ unbeschadet aus deren vergangener Familiensituation hervor. Diese Kinder werden auch als resiliente Kinder bezeichnet. Resilienz ist die Fähigkeit, belastende Einflüsse abprallen zu lassen und sich trotz der krank machenden Widrigkeiten gesund zu entwickeln. Ihre höhere Widerstandsfähigkeit verdanken sie oft erwachsenen, stabilen Bezugspersonen an ihrer Seite, denen sie vertrauen können und durch die diese Kinder eine sehr wichtige Erfahrung machen: Sie werden gesehen. Sie erfahren Sicherheit. Sie dürfen Kind sein. Dies gibt ihnen die Bestätigung, dass sie genauso angenommen werden, wie sie sind und haben so eine gute Chance, sich stabil und gesund zu entwickeln.
Auch das Wissen, dass die Eltern betroffener Kinder an einer Krankheit leiden und das unberechenbare Verhalten des abhängigen Elternteils ein Symptom der Sucht ist, und sie selbst keinerlei Schuld daran haben und durch ihr Verhalten auch nichts verändern können, kann eine sehr entlastende Wirkung haben. Es ist wichtig, dass eine erwachsene Vertrauensperson dem Kind altersgemäße Informationen über die stattfindende Situation und auch über die Sucht vermittelt.
Wichtige Informationen dazu finden Sie unter:
> Die Bezugsperson

In alkoholbelasteten Familien gibt es für betroffene Kinder keine klaren Grenzen. Sehr häufig kommt es in solchen Familien zu körperlicher Gewalt, Missbrauch und sexuellen Übergriffen. Das gesamte Familiensystem ist geprägt von Angst, Unberechenbarkeit und extremer Unsicherheit und nur eines ist in diesen Familien sicher: Dass zu keinem Zeitpunkt irgendetwas sicher ist. Je nachdem, ob der alkoholabhängige Elternteil getrunken hat oder nicht, kann es zu Aggressionen, Gewalt und Übergriffen oder auch überschwänglicher Liebesbekundung kommen. Diese permanenten Unbeständigkeiten können tiefe psychische Schäden bei den betroffenen Kindern hinterlassen. Häufig sind sie völlig auf sich gestellt, denn es gibt ein Gesetz, das für sie von klein auf gilt:

Das ungeschriebene Familien-Gesetz
In Alkoholikerfamilien ist es ungeschriebenes Gesetz, dass Informationen das Familiensystem keinesfalls verlassen dürfen:

  • Sprich keinesfalls mit einem Außenstehenden darüber, was innerhalb Familie vorfällt.
  • Vertraue Niemandem außerhalb des Familiensystems. Nur was innerhalb der Familie gesprochen wird, ist richtig und wahr.
  • Verstecke Gefühle wie Angst, Trauer oder Wut. Diese Gefühle sind nicht echt, denn in unserer Familie gibt es keine Probleme.

So haben diese Kinder kaum Chancen, sich über irgendetwas auszusprechen. Sie sind häufig mit extremen Ausnahmesituationen und Krisen konfrontiert, müssen still leiden und es ist niemand da, der ihnen etwas erklärt; sie haben Angst und sie schämen sich.

Der Kontrollzwang
Um ihr „Überleben“ halbwegs zu sichern, müssen Kinder in Alkoholikerfamilien immer wieder kontrollieren, was zu Hause gerade „in der Luft liegt“, um darauf reagieren und sich der Situation anpassen zu können:

  • Gibt es Spannungen?
  • Wurde getrunken?
  • Gibt es Streit?
  • Wird jemand geschlagen?
  • Wie muss ich mich heute verhalten?
  • Darf ich etwas erzählen?
  • Darf ich lachen?
  • Muss ich mich verstecken?
  • Habe ich etwas falsch gemacht?
  • Was habe ich falsch gemacht?
  • Was kann ich richtiger machen?
  • etc.

Die Isolation
Durch fehlende, jedoch so notwendige Erklärung/Aufklärung sind es immer wieder die Kinder, welche die Schuld bei sich suchen, die glauben, etwas falsch zu machen – falsch zu sein. Es passieren Dinge, die sie nicht zuordnen können – ein völlig abnormales Familiensystem ist für diese Kinder Normalität und doch ist es für sie immer wieder verwirrend und beängstigend. Es stellt sich das Gefühl ein, nicht „richtig zu sein“, weil sich die eigenen Wahrnehmungen nicht mit dem decken, was ihre Eltern sagen.
Der Kontakt zum eigenen Ich des betroffenen Kindes wird gestört und so kann es sich nicht gesund entwickeln. Die Kinder in alkoholbelasteten Familien werden immer wieder versuchen, noch „richtiger“ zu werden oder „unsichtbarer“ und trotzdem wird eine ähnliche Situation keinerlei Verbesserung ergeben. Trotz all diesem Leid werden die Kinder in Alkoholikerfamilien nach außen hin immer wieder versuchen, ihre Eltern (besonders den trinkenden Elternteil) in Schutz zu nehmen und die Schuld in erster Linie bei sich selbst suchen.

Die Scham
Häufig schämen sich die Kinder aus Alkoholikerfamilien so sehr, dass sie keine Freunde mehr mit nach Hause bringen oder dies auch nicht dürfen, damit niemand sehen kann, was sich tatsächlich hinter deren Wohnungs- oder Haustüren abspielt. Um dem ungeschriebenen Familiengesetz zu entsprechen, müssen betroffenen Kinder gegenüber anderen Kindern, deren Eltern, Lehrern etc. Lügengeschichten erzählen. Die Isolation erhöht sich dadurch nur noch zusätzlich.

Weitere Informationen finden Sie unter:
> Die kleinen Kinder/Die Rollen

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Foto: © Aimee Vogelsang/unsplash